Zunächst: Für 99% der Schweizer Politiker bringt der Dienst für das Gemeinwesen im besten Fall eine Ent-Schädigung (kommt von … Schaden). Ausser Spesen nichts gewesen? Nein. Auch wenn der zeitliche Einsatz sehr hoch ist: Viele Erlebnisse und Erfahrungen sind so prägend, dass es sich alleweil lohnt. Faszinierend ist die vielschichtige Realität. Slogans, Haltungen, Ängste, Sympathie, strenge Logik, Biografien vermischen sich zu digitalen Abstimmungs- oder Wahlresultaten. Jeder erfahrene Politiker ist mit der Zeit "Festplatte" von Lokalkenntnissen. Wie im Sport kann man auch in der Politik lernen, mit Anstand und Selbstkritik zu verlieren. Tröstlich: In der direkten Demokratie bekommt das Volk immer, was es bestellt hat. Es hat auch nicht immer recht. Sonst wäre es allwissend. Aber es bestimmt.
Nicht zufällig fällt das definitive Engagement für die Politik, das heisst der folgenschwere Entscheid für ein zeitraubendes Amt, mit der Geburt meiner Kinder zusammen. Sinn für längerfristige Zusammenhänge, das "Übergeben und Übernehmen" der Generationen im Staat, Dankbarkeit für die eigenen Chancen, Dankbarkeit für gesunde Kinder, Dankbarkeit für visionäre Zürcher Vorfahren: Daraus gewann ich Freude und Motivation am Mitgestalten der Zukunft. Etwas zurückgeben. Für die Zukunft unserer Kinder.
Beides ist schwierig: A. die Analyse politischer Erfolge und B. die Definition des persönlichen Erfolgs. Ich freue mich zum Beispiel an 10 Jahren spannendem Wirken im Zürcher Bildungswesen. Andere messen ihre politische Aktivität an den Wahlerfolgen. Beispiel: Die Zentrale der Zürcher SVP tut nichts anderes und deklariert das auch offen. Wahlen gewinnen! Der Einfluss in Sachfragen ist ihr ziemlich gleichgültig. Ohne Wertung: Ich habe es gerne anders. Abstimmungserfolge lassen sich kaum in Wählerstimmen umsetzen: Sind das deshalb sinnlose Erfolge? Sehr hart verfährt der Bürger gelegentlich auch mit der Arbeit seiner unzähliger Behördenmitglieder. Ihre persönliche Leistung geht in den grossen Wahlkämpfen meist völlig unter - niemand wählt Partei X, weil Frau Y und Herr Z in den Lokalbehörden einen Superjob machen. Eigentlich unverständlich. Auch dies sinnlose Erfolge? Mit diesem Paradox muss man leben lernen - darf aber die Dinge durchaus beim Namen nennen.
Wenn die Schweiz ein Erfolgsprodukt für den Export in die EU und die UNO hätte, dann wäre es die autonome Gemeinde. Auch im Kantonsrat gelten die Gemeindepräsis als "stärkste Partei". Erst wenn man aus dem Ausland zurückkommt, nimmt man die Freiheit und den enormen Entscheidungs-Spielraum der Gemeinden voll wahr: Nehmen wir die Schulgemeinde. Sie macht ihr Budget, stellt es an der Gemeindeversammlung vor, erkämpft sich ihre Finanzen selber. Sie stellt Lehrkräfte an, beurteilt sie, entlässt. Sie baut, sie klärt ab, sie berät, sie legt Geld an - und all dies nebenamtlich. Ein Schlüsselerlebnis: Als Schulpräsident erhielt ich Besuch von einer koreanischen Delegation. Wir stellten einige Urnen auf, um eine Abstimmung zu simulieren. Wir erklärten die Festsetzung des Steuerfusses durch die Gemeinde-Versammlung. Ungläubiges Staunen, dann schallendes Gelächter. "Ja aber - da wird doch jeder für Null Steuern stimmen!" - Falsch: Die Schule ist des Zürchers liebstes Kind. Es ist SEINE Schule. Seit 180 Jahren.
Parteien haben einen schlechten Ruf. Sie werden in Verbindung gebracht mit Einschränkung der persönlichen Meinungsfreiheit und mit Parteifilz. Dabei sind sie Dienstleister, eigentliche Kraftwerke der direkten Demokratie. Besonders wenn es um Tausende von zu besetzenden Miliz-Behörden-Jobs geht. Weshalb die Löcher nicht einmal offen lassen, um dem "unabhängigen" Bürger den Weg zu ebnen? Parteilose gelten im Lande häufig als "edler" - dabei legt die Parteibindung dem Wähler nur die Grundhaltung des Kandidaten offen. Ein SP, FDP, SVP oder GP Behördenmitglied kann man an seinem sozialen, liberalen, traditionellen oder ökologischen Weltbild messen …und damit konfrontieren. Parteilose sind vogelfrei. Parteien haben ohnehin weniger Einfluss als die mächtigen Informationsapparate von Interessengruppen. Viele Sachgebiete sind ja keineswegs Links/Rechts-Fragen. In einer liberalen Kaderpartei, wie sie die FDP darstellt, kommt in der Regel grosse Sachkenntnis der Mitglieder hinzu. Sie lassen sich nicht willenlos als Stimmvieh kritiklos zur Schlachtbank führen. Parteiparolen werden oft überschätzt. Übrigens. Auch Parteien funktionieren vor allem, wenn sich die beteiligten Menschen mögen.
EINE harte Lehre hält die Politik für JEDEN Zauberlehrling bereit: Wahlen vorbereiten, eine Plattform zusammenstellen, die eigenen Chancen abschätzen und mit dem Resultat (Erfolg oder Misserfolg) leben müssen. Die Motive der Wähler können nie wirklich ergründet werden. Mit der Zeit entwickelt sich eine gewisse Gelassenheit. Eine Wahl ist ja keine professionelle Selektion ist, sondern ein Entscheid, der aus grosser Ferne zur Person fällt. In diesem Sinne ist eine Niederlage auch kein Werturteil, sondern einfach eine Nichtwahl. In der Gemeinde wählt man zwar häufig noch Persönlichkeiten - auf Kantonsebene kann man nur noch in ländlichen Bezirken wirklich an die WählerInnen herantreten. Für das eidgenössische Parlament braucht dann einen riesigen Bekanntheitsgrad. Diesen kann man sich nur mit aktiver Medienpräsenz, grossen Verbänden im Rücken oder sehr viel Geld verschaffen. Es braucht eine Hausmacht. Stichwörter: "Arena-Tauglichkeit" und Anerkennung über die eigene Partei hinaus. Eine weitere Amerikanisierung ist bei uns abzusehen. Also: Wahl ist Macht - Nichtwahl ist mehr Freizeit. Sagte ein weiser Kollege: "Ich bleibe mir treu. Denn mit mir selber bin ich am häufigsten zusammen: 24 Stunden täglich muss ich in den Spiegel sehen können!"
Dem französischen Finanzminister Colbert sagt man nach, Steuern eintreiben sei „die Kunst, dem Huhn bei möglichst wenig Geschrei möglichst viele Federn auszureissen.“ - Tatsächlich ist das richtige Mass bei Wortwahl und Wortmeldungen eine hohe parlamentarische Kunst. Denn es ist wichtig, seine Stellung im Parlament sorgfältig aufzubauen. Oft benötigt man Mitstreiter ausserhalb der eigenen Partei, um ein Herzensanliegen durchzubringen. Dies ist nur möglich, wenn man nicht unnötig verletzend ist. Wer auf den Mann zielt, sollte gute Schienbeinschoner tragen, denn früher oder später kommt die "Botschaft" zurück. Natürlich sind gute Sprüche und träfe Voten das Salz in der Suppe einer Debatte. Und heftige Kontroversen (in der Sache!) sollen durchaus angestrebt werden. Zu Kompromisse kommt es früh genug. Am Ende folgt der Volkswillen. Ich habe mich eher begrenzt (Themen) und gemässigt (Stil). Nicht immer, aber immer öfter. Denn selig sind, die nichts zu sagen haben, und es auch tun.
Sagte ein alter Amtschef: "Journalisten sind wie Fieber: Es kommt und nach 3-4 Tagen ist es vorbei." Daran ist viel Wahres und Wertvolles. Und doch schmerzt es sehr, wenn man zu Unrecht durch den Kakao gezogen wird. Viele sagen: "Ganz egal, was in der Zeitung steht: Man spricht von dir." Trost? Das muss man aushalten können. Allerdings: Wer das Rampenlicht sucht, darf die Mechanik der modernen Medien nicht fürchten. Und Gegenwind gibt bekanntlich Auftrieb. Oft kommt die Stunde, in der ein unsachlicher Angriff lächelnd gekontert werden kann. Elefantengedächtnis: Die Narben sind bereits verheilt, aber die Genugtuung wirkt wie Balsam. Wer nicht über unbegrenzte Finanzen verfügt, hat ohnehin nie eine Chance, gegen die Medien zu gewinnen. Deren Macht ist - kurzfristig - unbeschränkt. Wer in den Hammer läuft, ist (vorübergehend) erledigt. Mit „Ausgestossenen“ lässt sich auch keiner gerne sehen. Auf der zweiten Waagschale des Aufstieg sitzen gute Freunde beim Fernsehen. Man wird (immer dieselben) "spontan angefragt". Gute Präsenz in den politischen Klatschspalten ist erstaunlich hilfreich. Ja nu: Wer nicht über das Sackgeld verfügt, jede Haushaltung zu beglücken, muss halt als Wanderapostel wirken. Gelassen.
Wir Schweizer pflegen den Mythos der allumfassenden Miliz. Irgendwo ist jeder Bauer, Schütze, Parlamentarier (mit Kratte) und Volkssänger (mit Sennenhemd). Sicher: Da liegt viel Horizonterweiterung drin. Aber wer sich nicht halbberuflich der Politik widmen kann, gewinnt keinen Blumentopf mehr. Beispiel 1: Wer die Effizienz der Universität Zürich kritisieren will, muss erst ihr Milliarden-Budget kennen und verstehen! Das braucht Zeit! Beispiel 2: Der totale Umbau der Zürcher Lehrerbildung hin zur Pädagogischen Hochschule war mein parlamentarisches Gesellenstück als Präsident dieser (letzten) Spezialkommission. Zeitaufwand volle 3 Monate: Vorbereitung, Hearings, Quervergleiche, Lektüre. Dann Beratung im Parlament und Abstimmungskampf. Kurz: Mit 30% ist man im Kantonsrat als Notnagel dabei. Wirkungslos. Und mit 50% kann man in der Regel eine anspruchsvolle Kaderposition in der Wirtschaft vergessen. Zwischen diesen Polen wird bei uns Politik betrieben. Für 20-30‘000 Franken jährlich. Aber es macht Spass!